Nach Gründung der Sammlung internationaler zeitgenössischer Kunst des MNAHA im Jahre 1957 konzentriert sich ihr Ausbau unter dem ersten Kurator Joseph-Émile Muller vor allem auf die französische Nachkriegsabstraktion, insbesondere die sogenannte abstraction lyrique. Eine geschickte Ankaufspolitik ermöglicht es trotz bescheidener Ankaufsbudgets in drei Jahrzehnten ca. 130 Werke zusammenzutragen.

Seit den 1990er Jahren erfolgt durch Direktor Paul Reiles und Konservator Jean Luc Koltz eine strategische Erweiterung der Sammlung um wichtige Werke der sogenannten figuration narrative. Diese Bewegung, in den 1960er Jahren als Reaktion auf die Abstraktion entstanden, greift soziale, politische und historische Themen auf. Im Laufe von zwei Jahrzehnten gelingt es, eine bedeutende Sammlung musealer Werke dieser Gruppe aufzubauen, was u. a. die Position des Museums im Bereich des internationalen Leihverkehrs erheblich stärkt.

Reaktion in Theorie und Praxis

Ab etwa 2010 tritt die Sammlungsstrategie dann in ihre vorerst letzte Phase. Im Zentrum stehen seither sowohl eine Diversifizierung der Medien als auch eine Stärkung bereits bestehender Sammlungsschwerpunkte. Neben der modernen Kunstfotografie – ausgehend von einem Kernbestand an Abzügen von Edward Steichen – rückt dabei quasi automatisch auch die französische Avantgarde-Bewegung Supports/Surfaces in den Fokus. In den 1960er Jahren entstanden, stellt sie die Materialität der Leinwand in den Mittelpunkt und führt innovative Techniken und Materialien ein. Ihre Vertreter lehnen die traditionelle Behandlung des Malträgers ab. Sie erforschen die inhärenten Qualitäten der Leinwand, was zu neuen Ausdrucksformen führt. Einige von ihnen überschreiten auch bewusst die Grenze zu anderen Ausdrucksformen, insbesondere der Skulptur.

Der Aufbau eines kohärenten Ensembles von Supports/Surfaces-Werken erscheint aus mehreren Gründen naheliegend. Zum einen handelt es sich um die letzte bedeutende französische Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts. Zum anderen reagieren ihre Künstler in Theorie und Praxis auf die bereits bestehenden zwei Sammlungsschwerpunkte im Bereich der französischen Malerei der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und ermöglichen somit neue künstlerische Dialoge zwischen gleich drei Avantgarde-Bewegungen.

38 Werke von musealer Qualität

Von einzelnen ab 1994 erworbenen Werken ausgehend lanciert das Museum eine systematische Ankaufspolitik. Es gelingt zudem, eine Reihe wichtiger Schenkungen durch Hauptvertreter der Gruppe einzuwerben. Aktuell umfasst unsere Sammlung bereits 38 Werke von musealer Qualität und gilt als eine der interessantesten öffentlichen Sammlungen zu Supports/Surfaces in Europa und in Übersee. Sie spiegelt die Vielfalt der verwendeten Materialien und Techniken sowie die individuellen ästhetischen Positionen der Hauptvertreter der Bewegung wider. Somit erlaubt sie eine kohärente Präsentation einer innovativen künstlerischen Strömung, die zeitgleich mit Kunstströmungen in Amerika die Materialität der Malerei neu zu definieren versucht.

Im Kontext der im März 2024 wiedereröffneten Dauerausstellung moderner und zeitgenössischer Kunst präsentieren wir dem Publikum unsere Supports/Surfaces-Sammlung erstmals in ihrer Gesamtheit.

Text: Michel Polfer - Fotos: Eric Chenal

Quelle: MuseoMag N°III 2024