Vor Kurzem konnte das Museum ein spannendes Werk des französischen Künstlers Jean Bonier (1817- 1875) für seine Sammlung gewinnen. Hierbei handelt es sich um ein Ölgemälde aus dem 19. Jahrhundert welches angeblich die Familie des Malers zeigt.
Auf der linken Bildhälfte ist ein älterer Mann mit kurzen, grauen Haaren und Bart in einem braunen Anzug zu sehen. Mit einer aufrechten Pose sitzt er schräg an einem Schreibtisch. Links von ihm sitzt eine strickende Frau mit Haube und schwarzem Kleid. Hinter ihr scheint eine junge Frau in einem blaugrauen Kleid etwas aus dem Regal zunehmen. Im Hintergrund befinden sich Regale mit Bücher und verschiedenen Materialien.
Die drei Familienmitglieder blicken mit scheinbar gelangweilt, wenn nicht sogar genervt zum Künstler und sehen somit gleichzeitig zum Betrachter. Dies verleiht dem Bild ein sehr direktes und reales Gefühl. Es verleiht dem Betrachter einen Einblick in ein Büro wo es scheint das diese Familie beruflich beschäftigt ist. Das gesamte Porträt vermittelt einen Eindruck von ungewöhnlichem Realismus, als wäre es eine Kombination aus Genrebild und Porträt.
Raphaël Savoyard
Jean Marie Henry Bonier war ein französischer Künstler, der am 5 Juni 1817 in Clermont zur Welt kam. Mit 13/14 Jahren konnte er seinen Vater davon überzeugen ihn nach Annecy zu schicken wo er bei dem Künstler Prosper Dunant in die Lehre ging. Dort verblieb er bis ins Jahr 1832.
Später schrieb er sich in der Akademie von Turin in Italien ein und erhielt schnell die Wertschätzung seiner Meister und die Sympathien seiner Kameraden. Von ihnen erhielt er auch den Spitznamen „Raphaël Savoyard“. Mit seinem Aussehen und seinem Verhalten ähnelte er nämlich sehr dem bekannten italienischen Renaissancekünstler Raffael. Über die Jahre hinweg erhielt er für sein Schaffen eine Reihe an Auszeichnungen, darunter auch eine Silbermedaille im Jahr 1834.. Nach drei Jahren verließ er die Akademie und laß sich in Paris nieder. Dort war er Schüler des Künstlers Paul Delaroch, dessen Einfluss in Boniers Kunst sehr deutlich hervorgeht.
Er konnte sich nicht an das Leben in der großen Stadt gewöhnen und kehrte deshalb, nach einem kurzen Aufenthalt in Saint-Julien, 1845 zurück zu seiner Familie nach Frangy. Hier schuf er mehrere Gemälde, besonders Porträts der Bürgern Frangys. Typisch für seine Bilder war, neben der Inspiration von seinem Meister Delaroche, auch, dass keine Figur teilnahmslos wirkt. Die Personen in seinen Werken beweisen realistischen Charakter mithilfe ihres expressiven Ausdrucks. Am 10 März 1875 verstarb Jean Bonier im Alter von 58 im Krankenhaus von Annecy.
Ein geheimnisvolles Porträt
Doch wer sind diese Personen auf dem Gemälde? Handelt es sich um Personen, die der Künstler persönliche kannte? Und wo befinden sie sich? In wessen Haus gewährt uns der Künstler hier einen Einblick? Diesen Fragen und noch vielen mehr haben wir versucht auf den Grund zu gehen.
Welche Informationen erhielten wir eigentlich aus der Auktion? Bei der Ersteigerung des Werkes war es nur der Titel, der uns verriet, dass der Künstler seine Familie abgebildet hat. Die erste Vermutung war somit, dass der Künstler seine Eltern und seine Frau bzw. Schwester dargestellt hat. Der alternative Titel des Werkes Portrait de famille dans une arrière-boutique erklärt zumindest in welchem Raum die Figuren stehen. Doch sagte es uns nicht, um wessen und welche Art von Geschäft es sich handle.
Doch diese Informationen reichten uns nicht, wir wollten es genauer wissen. Deshalb kontaktierten wir das Museum in Annecy, welches, nach Angaben des Auktionshauses, ebenfalls zwei Werke von Jean Bonier in ihrer Sammlung besitzt. So haben wir erfahren, dass das Museum von Annecy neben einem Porträt eines Notars, ein Familienporträt aus dem Jahre 1860 besitzt, welches unserem verblüffend ähnlich ist.
Wenn man sich das Bild aus Annecy genauer anschaut, scheint es sich um dieselben Personen zu handeln, wie in unserem Bild. Sie tragen sogar fast die gleiche Kleidung. Auch hier ist ein älterer Mann in einem dunklen Anzug, eine Frau die strickt und eine junge Frau in einem blaugrauen Kleid zu sehen. Wie in unserem Werk blicken sie direkt zum Betrachter. Wodurch die Figuren sich jedoch unterscheiden ist, dass sie wie Puppen in einem leeren Raum platziert sind, ohne sich aktiv im und zum Raum zu bewegen. Das Bild wirkt somit weniger wie eine Momentaufnahme.
Recherchen in Annecy
Den Unterlagen des Gemäldes von Annecy zufolge handelt es sich bei den dargestellten Personen um den Künstler selbst, seine Frau und seine Mutter. Jedoch wirft diese Interpretation einige Fragen auf, wenn man bedenkt, dass der Künstler beim Malen des Werkes 43 Jahre alt war und der Mann im Bild deutlich älter wirkt.
Die Leiterin der „Beaux-arts“ Sammlung in Annecy leitete uns schließlich weiter an das Stadtarchiv in Annecy. Mithilfe der Informationen, die uns vom Archiv übermittelt wurden, konnten wir die erste Interpretation streichen. Jean Bonier war nämlich nie verheiratet. Er hatte somit keine Ehefrau, die er porträtieren konnte.
Des Weiteren erfuhren wir, dass Jean Bonier Sohn von François Bonier und Pierrette Mermier war und sein Vater ein “negociant de Frangy” und “marchand de fer“ war. Es kann somit möglich sein, dass sich die Figuren auf dem Bild im Hinterzimmer des Geschäftes des Vaters aufhalten. Zudem fanden wir heraus, dass Bonier im ganzen sechs Geschwister hatte, darunter zwei Schwestern.
Auffallend ist zudem, dass im Vergleich mit dem Gemälde aus Annecy, in welchem der Raum einem Salon der Oberschicht ähnelt, der Raum in unserem Werk eher den Charakter eines mittelständigen Geschäfts hat. Vielleicht ist das Familienporträt aus Annecy inszeniert und unseres zeigt die „realen“ Umstände der Familie? Bekam die Familie zum Zeitpunkt des Malens des Gemäldes womöglich finanzielle Schwierigkeiten?
Im Jahre 1833 war die savoyische Industrie mit Ausnahme des Bergbaus unterentwickelt. Savoyen war somit nach wie vor von französischen, schweizerischen und italienischen Importen abhängig. Während dem Sardinischen Krieg 1859, wurde zudem in Savoyen Propaganda für oder gegen die Vereinigung mit Frankreich organisiert. Mit dem Vertrag von Turin im Jahre 1860 gelangte Savoyen dann dennoch unter die Herrschaft Napoleons III. und wurde ein Teil Frankreichs. Ob nun das Familiengeschäft der Boniers unter diesen Umständen gelitten hatte, ist jedoch nicht nachzuweisen.
Schlussfolgerungen
Anhand der Informationen, die uns das Archiv in Annecy lieferte, könnte man also vermuten, dass es sich bei den Figuren um François Bonier, Jean Boniers Vater, Marie Victoire und Mariette, die beiden Schwestern von Jean Bonier, handelt. Wenn man also nun die gesammelten Daten durchgeht und sie mit unserem neu erworbenen Werk vergleicht, könnte man zu folgender Schlussfolgerung kommen:
Jean Boniers Vater war ungefähr 72 Jahre alt als das Bild gemalt wurde. Dieses Alter scheint mit dem des Mannes auf dem Gemälde übereinzustimmen. Laut den Informationen des Archives war Jean Bonier zudem der Erstgeborener. Der Zweitgeborene war Pierre Joseph, welcher zwei Jahre jünger war als der Künstler. Wie Jean Bonier, war er somit mit seinen 41 Jahren scheinbar viel zu jung, um den Mann auf dem Bild darzustellen. Demnach kann es sich beim Mann nur um Jean Boniers Vater handeln.
Boniers Schwester Marie Victoire kam im Jahre 1821 zur Welt und war somit ungefähr 39 Jahre alt. Bei ihr war es nicht bekannt, ob sie jemals geheiratet hatte. Mariette, Boniers jüngste Schwester, kam im Jahre 1831 zur Welt. Mariette heiratete einen gewissen Herrn namens Cailler Auguste. Mariette lebte gemeinsam mit ihrem Ehemann in Ayse, in der Nähe von Annecy, wo sie in dem Lebensmittelgeschäft ihres Mannes und als Floristin arbeitete.
Ist das Lebensmittelgeschäft vielleicht eine weitere Möglichkeit für unsere Szenerie? Dies kann gut möglich sein, bedenkt man, dass Mariette nicht weit von ihren Eltern entfernt lebte und ihr Vater als Händler vermutlich mit ihr öfters verhandelte. Zudem erklärt dies auch, warum die junge Frau aus dem Gemälde dabei ist zu arbeiten und scheinbar etwas ins oder aus dem Regal zu räumen. Der Hintergrund aus dem Familienporträt kann somit das Büro, in dem Mariette und ihr Mann jegliche administrativen Tätigkeiten vollrichten, des Lebensmittelladen zeigen. Dadurch besteht zudem die Möglichkeit, dass in unserem Gemälde das eher mittelständiges Lebensmittelgeschäft dargestellt wird, während in dem Familienporträt von Annecy der elegantere Salon aus dem Haus in Frangy zeigt.
In einem weiteren Gemälde von Jean Bonier malte der Künstler sich selbst und zwei weitere Personen, eine Frau und einen Mann, in einer Wiesenlandschaft. Auch hier lautet der Titel L’artiste et sa famille. Betrachtet man den jungen Mann genau, dann erkennt man, dass er einen Notiz- oder Zeichenblock, einen Stift und ein weiteres, leider unerkennbares, Objekt in den Händen hält. Es handelt sich hierbei vermutlich um Erasme Bonier, der jüngere Bruder von Jean Bonier und ein Vermesser und Architekt. Die Objekte in den Händen sind die gleichen Utensilien wie die eines Architekten. Womöglich ist das unklare Objekt ein Messgerät?
Die Frau im Gemälde
Bei der Frau gibt es zwei Theorien. Erstens kann es sich wieder einmal um Mariette handeln, da sie der jungen Frau vor dem Regal sehr ähnelt. Zudem hält sie einen Blumenstrauß in der Hand, was möglicherweise auf ihren Beruf als Floristin andeuten soll, wie die Utensilien des von Jean und Erasme den Beruf des Malers und Architekten wiedergeben. Allerdings kann es sich auch um Erasmes Verlobte, Anne Dupraz, handeln.
So stellt sich dennoch die Frage, warum es sich bei der strickenden Frau denn nicht um die Mutter Boniers handle? Jean Boniers Mutter, Pierrette Mermier wurde ungefähr 1796 geboren und war demnach 64 Jahre alt, als ihr Sohn das Bild malte. Ob die Frau auf dem Gemälde nun eher wie 39 oder doch eher wie 64 Jahre aussieht, darüber lässt sich diskutieren.
Aus diesem Grund untersuchten wir das Gemälde noch mal ganz genau und uns fiel auf, dass die strickende Frau einen goldenen Ring am linken Mittelfinger trägt. Möglicherweise ein Hochzeitsring? Auffallend ist auch, dass sie im Gegenteil zu der jüngeren Frau, fast komplett schwarz bekleidet ist und ihr Haar unter einer Haube versteckt. Die gleiche Kleidung trägt sie ebenfalls in dem Familienporträt aus Annecy. Handelt es sich bei der Dame etwa um eine Witwe? Wenn ja, dann könnte dies der Beweis sein, den wir suchen, um festzustellen, dass es sich hier nicht um Jean Boniers Mutter handelt. Möglich wäre es, dass Marie Victoire ihren Mann verloren hatte und nach dem Tod ihres Mannes zurück ins Elternhaus kehrte. Belegt ist diese Theorie jedoch nicht.
Hervorzuheben ist bei all diesen Interpretationsmöglichkeiten, dass es sich immer um Spekulationen handelt und dass zum jetzigen Zeitpunkt keine einzige, vollständig dokumentierte Identifizierung der porträtierten Personen vorliegt. Die einzigen tatsächlichen Beweise, die wir aus den Dokumenten des Archivs von Annecy und des Museums haben, sind, dass Jean Bonier von ungefähr 1845 bis zu seinem Tod im Jahre 1875 im Elternhaus als Künstler arbeitete. Sein Vater, François Bonier, war ein Händler und heirate im Jahre 1816 Pierrette Mermier. Bei den beiden Frauen im Gemälde, handelt es sich vermutlich um die Mutter von Jean Bonier und seiner jüngeren Schwester Mariette.
Im Kataster des Jahres 1907 von Frangy gibt es keine Einträge mehr von der Familie Bonier. Die Nachkommen von Bonier Erasme waren in die Region um Paris und Isère umgezogen. In ähnlicher Weise waren vermutlich auch die Kinder seiner Brüder und seiner Schwester nach Paris gezogen, um ihre Karriere zu fördern.
Text: Lara Schaeffer
Quelle: MuseoMag N°III 2023