Unsere Sammlung beinhaltet eine große Auswahl an Stickereien, von Alphabet-Tüchern bis Flickenmuster für Leinen und Wolle. Betrachtet man diese als Archivalien, offenbaren sie sich als historische Quellen, die Einblicke in das Leben ihrer Herstellerinnen gewähren.

Unter Archivalien stellt man sich zunächst vielleicht wichtige Schriftstücke vor, die in fein säuberlich aufgereihten Kisten auf hohen Regalen in einem dunklen Magazin aufbewahrt werden. Doch muss es sich dabei um Papierdokumente handeln? Und was versteht man unter wichtig? Der Wert von Archivalien, der Grund, warum so viel Mühe in ihre Erhaltung investiert wird, liegt darin, dass sie die Tätigkeiten ihrer Schöpfer authentisch dokumentieren. Lange Zeit wurden vor allem Schriften von Organisationen wie dem Staat und von einflussreichen Menschen als wichtig erachtet, aufbewahrt und interpretiert.

Doch gibt es auch andere Arten von Dokumenten, die etwas über die Tätigkeiten derer sagen, die sie geschaffen haben. Dazu gehören auch bestickte Mustertücher. Betrachtet man diese als Archivalien, offenbaren sie sich als historische Quellen, die Einblicke in das Leben ihrer Herstellerinnen gewähren. Die frühesten erhaltenen Mustertücher aus dem europäischen Raum (16. Jahrhundert) dienten vor allem dazu, sich einen besonderen Stich für eine spätere Verwendung zu merken. Im Laufe der Zeit entstand dann eine weitere Mustertuch-Art: sogenannte band samplers. Sie wurden als Vorlage für ein Stickmuster, das meistens das ABC enthielt, angefertigt.

Die Rückseite eines runden Mustertuchs wo rote Fäden sichtbar sind

Verschiedene „Sorten“ von Mustertüchern

Die Stickkunst war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fester Bestandteil der Ausbildung junger Frauen, auch in Luxemburg. Sie sollten diese Fertigkeit später anwenden, um Wäsche- und Kleidungsstücke in ihrem Haushalt zu kennzeichnen, flicken oder sogar herzustellen. Folglich befinden sich auch in unserer Sammlung einige Mustertücher. Die ältesten darunter sind etwa 130 Jahre alt, die jüngsten wurden in den sechziger Jahren gefertigt. Die Objekte stammen größtenteils aus den Schenkungen zweier Familien, der Familie Pierret-Müller (Inv. Nr. 1988-174) und der Familie Goldschmit-Stehres (Inv. Nr. 2021-267). In beiden Fällen sind Mustertücher von mehreren Generationen von Frauen erhalten, oft sogar mehrere Tücher pro Stickerin.

Dies erlaubt es uns einerseits die Unterschiede und Ähnlichkeiten im Laufe der Zeit zu dokumentieren und andererseits gibt es uns Aufschluss darüber, welche Techniken als Teil einer „guten, umfassenden Erziehung“ angesehen wurden. So finden sich in der Sammlung verschiedene „Sorten“ von Mustertüchern: Alphabet-tücher, Nähtücher, Weißstickerei und Flickenmuster für Leinen und Wolle. Die Mustertücher, die im Französischen treffend als Abécédaires bezeichnet werden, sind leicht als frühe schulische Arbeiten zu erkennen. Auf grob gewebtem Siebtuch wurde das Alphabet aus kleinen Kreuzstichen zusammengesetzt. Oft wurde es mit geometrischen Motiven verziert. Die Initialen oder sogar der ganze Name der Stickerin sowie das Entstehungsjahr sind ebenfalls ein üblicher Bestandteil einer solchen Arbeit. Diese Angaben ermöglichen es uns, die Stickerinnen ausfindig zu machen und eventuell mehr über sie zu erfahren.

Ein quadratisches Alphabet-Tuch aus dem Archiv des Museums

Alphabet-Tücher: auffällig rot

Besonders die frühen Alphabet-Tücher sind in der Regel mit einem auffälligen roten Faden bestickt. Rotes Garn wurde seit Jahrhunderten zur Kennzeichnung von Leinen genutzt. Die Beispiele aus unserer Sammlung zeigen jedoch, dass die Farbe des Stickgarns in der Mitte des 20. Jahrhunderts tendenziell bunter wurde. In Luxemburg wurden Mustertücher ab dem 4. Schuljahr angefertigt und sind oft weit mehr als nur Übungsstücke oder objektive, unpersönliche Dokumente der schulischen Erziehung junger Mädchen. Eingerahmte Mustertücher schmücken noch heute viele Wände, denn sie sind, anders als man annehmen könnte, nicht nur Zeugnisse der schulischen Erziehung und des Erwachsenwerdens.

Wer etwas bestickt, gibt diesem Objekt eine Bedeutung, verleiht ihm eine persönliche Note und würdigt es mit Wertschätzung. Die Stickmuster zeugen von der Kreativität, der Individualität und den vielseitigen Interessen der Heranwachsenden. Aus diesem Grund sind die Stoffe mit unterschiedlichsten Motiven bestickt, zum Beispiel Züge, Vögel, Blumen, usw. Es ist letztlich auch die Wahl der Motive, die uns viel über die jungen Stickerinnen verrät, die ihre Begeisterung für die verschiedensten Dinge in stundenlanger Arbeit verewigt haben. Gleichzeitig zeugen diese Arbeiten aber auch von der geschlechtergetrennten Ausbildung und Erziehung junger Frauen, um sie auf ihre vorbestimmte Rolle im späteren Leben vorzubereiten.

Ein rechteckiges Mustertuch mit den Initialien G.S. und das Jahr 1965

Eine geschlechtergetrennte Ausbildung

Obwohl das Sticken aus dem schulischen Lehrplan verschwunden ist, erlebt es in den letzten fünfzehn Jahren einen neuen Aufschwung. Damit einher geht auch das steigende Interesse an der Geschichte dieser vielseitigen Handwerkskunst. So wurde im Juni 2023, im Rahmen des Mois des Archives (Monats der Archive), ein Workshop angeboten, in dem die TeilnehmerInnen neben dem Erlernen einiger Stiche und dem Sticken eines eigenen kleinen Mustertuchs, auch die Stücke aus dem Museumsbestand entdecken konnten. Diese können nun auch auf der digitalen Sammlungsplattform MNAHA Collections begutachtet werden, wo sie sowohl als Inspirationsquelle als auch als Forschungsobjekte genutzt werden können.

Leider war das Interesse der Forschung an luxemburgischen Mustertüchern und deren Produzentinnen bisher nur sehr gering. Es stellt sich auch die Frage, wie viele Mustertücher noch auf luxemburgischen Dachböden in den Tiefen von Leinentruhen verborgen liegen oder als beliebte Dekorationsobjekte an luxemburgischen Wänden hängen. Weitere Beispiele zu entdecken, sie als Dokumente und Archivalien neu zu betrachten, könnte uns dabei helfen, anhand der Mustertücher mehr über die vielen luxemburgischen Stickerinnen, deren Erziehung und Interessen zu erfahren. Melden Sie sich gerne bei unserem Archiv: email hidden; JavaScript is required

Text: Edurne Kugeler und Isabelle Maas / Bilder: Éric Chenal

Quelle: MuseoMag N°III 2023